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Der Begriff der Primär- und Sekundärliteratur

Im landläufigen, populärwissenschaftlichen Jargon ist die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärliteratur eine klare Sache: Was ein Schriftsteller bzw. Autor schreibt, ist Primärliteratur. Wenn ein Literaturwissenschaftler später Interpretationen und Analysen über die Werke dieses Autors schreibt, spricht man von Sekundärliteratur. Bei genauer Betrachtung wird die terminologische Beschreibung weitaus diffiziler.

Die Begriffe Primär- und Sekundärliteratur stammen ursprünglich aus der Literaturwissenschaft. Primärliteratur sind aber nach heutigem Verständnis nicht nur dichterische Werke der Epik (z. B. „Buddenbrooks“ von Thomas Mann), Dramatik (z. B. „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe) und Lyrik (z. B. „Grauzone morgens“ von Dürs Grünbein). Unter den Begriff Primärliteratur fallen im Rechtswesen Gesetzestexte und schriftliche Rechtsquellen (Corpus Iuris civilis = Römisches Recht). Für die Philosophie gelten die Werke der großen Philosophen wie Immanuel Kant oder Theodor W. Adorno als Primärliteratur. In der Historie sind wiederum historische Texte, wie Stadternennungsurkunden, Primärliteratur. In der Theologie ist die Bibel die bekannteste Primärliteratur. In den Naturwissenschaften ist ein Werk Primärliteratur, wenn es sich um eine Originalpublikation handelt, z. B. Newtons „Principia Mathematica“. Primärliteratur sind in der Chemie Werke, in denen erstmals die Synthese und Charakterisierung von bislang unbekannten Stoffen genau beschrieben werden.

Klassische Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärliteratur

Bei meist berühmter dichterischer Primärliteratur wird auch noch zwischen den verschiedenen Ausgaben unterschieden. Handelt es sich um die zeitlich erste Ausgabe eines Romans, wird sie Erstausgabe genannt. Ausgabe letzter Hand ist die zeitlich letzte Ausgabe, die der Autor meist in hohem Alter noch selbst besorgt hat. Bei Jahrhundertgenies wie Goethe tritt oft der Ort der Herausgabe in den Namen. So gibt es das gesammelte Werk von Goethe in einer Hamburger, Münchner, Berliner und Frankfurter Ausgabe. Sie werden von den jeweiligen Herausgebern etwas unterschiedlich, z. B. mit oder ohne Anmerkungen und Kommentare, gestaltet. Wenn der Autor manche Stellen verschieden geschrieben hat, z. B. in zeitlichem Abstand, wird oft ein Textvergleich angestellt.

Die zeitlich nachfolgende wissenschaftliche Untersuchung mit diesen Texten wird Sekundärliteratur genannt. In der Sekundärliteratur wird meist von einem Literaturwissenschaftler oder Literaturkritiker ein bestimmter Ansatz gewählt, unter dem primäre Text beleuchtet und analysiert wird. Häufig wird ein bestimmtes Motiv untersucht oder der Stil des Autors als Ausdruck einer bestimmten literaturgeschichtlichen Epoche. Die Darstellung der Gesellschaftsklassen in einem Werk ist bevorzugtes Thema der Literatursoziologie, die besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Werke der Sekundärliteratur geschaffen hat. Die Sekundärliteratur wird als Forschungsliteratur vor allem für die Universitäten und Literaturinstitute geschrieben und dort auch von den Studierenden verwendet. Die Werke der Sekundärliteratur werden in einer Bibliographie zusammengestellt.

Sekundärliteratur ist im Falle der „Buddenbrooks“ etwa die Abhandlung von K.-J. Rothenburg, die das Problem des Realismus und die Behandlung von Wirklichkeit in diesem Roman behandelt. Über „Faust“ gibt es Legionen von Sekundärliteratur und Abhandlungen. Jene von H. O. Burger untersucht Motiv, Konzeption, Idee als ein Kräftespiel in der Entwicklung des „Faust“. Über den zeitgenössischen Dichter und Essayisten Grünbein hat H. Ahrend eine Arbeit geschrieben, die den Grünbein als Tanzenden zwischen allen Stühlen sieht.

Wenn Sekundärliteratur zu Primärliteratur wird

Und dann gibt es Fälle, wo die Sekundärliteratur vergangener Epochen selbst zur Primärliteratur wird. Häufig ist das der Fall, wenn Interpretationen oder Studien zu einem Autor aus einer bestimmten Zeitspanne von einem Wissenschaftler aus einer späteren Epoche „gelesen“ und untersucht werden. Dann untersucht etwa ein Literaturwissenschaftler aus dem 21. Jahrhundert, was seine literaturwissenschaftlichen Kollegen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Werke und die Stilrichtung des Realismus (ca. 1848 bis 1890) geschrieben haben. Wie haben sie diese Dichtung als Zeitgenossen rezipiert? Oder es wird untersucht, wie Heinrich Böll und Günter Grass an amerikanischen Universitäten aufgenommen worden sind. Was steht in den Abhandlungen und Rezensionen, die dort über sie geschrieben wurden?

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